Prolog
Loreley
„Party …!“, hörte ich meine beste Freundin Holly schon in der Entfernung aus der Menschenmenge heraus, die sich hier im Clubhouse, der angesagtesten Studentenbar nahe der Oxford-Universität, bereits tummelte. In wenigen Tagen würde das Michaelmas-Semester beginnen, und so war es nur recht, dass die Studenten noch einmal richtig abfeierten. Nicht, dass sie das Studium ansonsten davon abhalten würde …
Wenn es einen Grund zum Feiern gab, und den gab es natürlich reichlich, dann würden sich die Elite-Studenten der renommierten, britischen Universität diesen nicht entgehen lassen.
Ich für meinen Teil war keine klassische Party-Mieze, ganz anders als Holly, die sicherlich als erste das Clubhouse stürmte, sobald es seine Pforten öffnete. Minder begeistert hatte ich mich dann aber doch durch ihre unzähligen Kurzmitteilungen dazu bringen lassen, wenigstens auf einen Sprung einmal vorbeizuschauen.
Schließlich habe ich ja ansonsten nichts Besseres zu tun.
Also bahnte ich mir meinen Weg tapfer durch die vielen, dicht gedrängten Studenten, die tanzend ihre Jugend genossen. Herrgott, Loreley. So wie du denkst, könnte man fast meinen, du wärst die Oma hier. Gut, mit meinen einundzwanzig Jahren war ich wirklich etwas älter als der Durchschnitt. Aber alt? Höchstens in deinem verqueren Kopf, gab mir mein unsensibles Unterbewusstsein zu denken.
Ich fühlte mich nicht alt. Ich war nur … anders. Vielleicht einen Tick weniger leichtfüßig, dabei jedoch keineswegs langweilig, wie ich fand. Kein Mauerblümchen oder so. Nur eben nicht Standard. Das war alles. Meine Vorliebe für dunkle Kleidung, – auch heute trage ich zu der schwarzen, engen Jeans ein schlichtes, bordeauxfarbenes Tank-Top –, trug vielleicht auch nicht gerade dazu bei, dass ich mich perfekt in die High-Society der klassisch reichen und verwöhnten Studenten einfügte.
Für mich zahlten nicht Mami und Daddy die horrenden Gebühren, die anfielen, wenn man sein Glück an dieser Uni versuchen wollte. Nein, ich musste hart dafür arbeiten und brachte mich mit Nebenjobs über die Runden.
Einzig und allein meine gute Tante Elise unterstützte mich tatkräftig bei meinem Traum, einmal eine weltberühmte Regisseurin zu werden. Ich meine, viele hier studieren nur, weil ihre Eltern es so wollen und es seit Generationen in der Familie so vorgesehen ist. Aber ich? Für mich bedeutet es wirklich alles.
Zu tief in Gedanken versunken, kam ich schließlich irgendwann nach einem regelrechten Spießrutenlauf zwischen schwappenden Bechern mit alkoholischen Getränken und nervigem Gedrängel am Tisch meiner Mädels an. Eigentlich wunderte es mich, dass Holly nicht bereits auf einem der runden Tische tanzte. Aber nun gut, der Abend war ja noch jung.
„Hey ihr“, begrüßte ich Holly und Sarah knapp, während Holly mir auch schon ein Küsschen auf die Wange drückte und Sarah kurz aus ihrer Ecke aufsah und mir zuzwinkerte. Sarah war das direkte Gegenteil von Holly. Klein, rötlich-blonde Löckchen, obendrein sehr introvertiert und belesen. Und ich fragte mich wirklich, wie die beiden in ein und demselben Raum existieren konnten.
Trotzdem funktionierte es. Sehr gut sogar, denn immerhin bewohnten wir drei bereits seit langem die gleiche WG. Gegensätze ziehen sich wohl doch an. Oder sollte ich besser sagen, wir halten uns streng an das Motto: leben und leben lassen? Wie dem auch sei. Wir kamen uns nicht in die Quere und jede akzeptierte die anderen so, wie sie waren. Meistens jedenfalls.
„Oh, Lory. Jetzt zieh nicht so ein Gesicht. Hier, ich habe dir schon einmal etwas zu trinken geholt.“ Holly streckte mir einen Becher mit stark riechendem Gesöff entgegen. Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und konnte mir einen skeptischen Blick nicht verkneifen.
„Holly. Du weißt doch, dass ich eigentlich nie was trinke. Was ist das überhaupt?“
„Jetzt beruhige dich erstmal, Süße. Das ist wirklich harmlos. Ein Hugo. Mehr nicht.“ Hugo? Natürlich sagte mir das was, aber wer zum Teufel gibt einem In-Getränk einen derart lächerlichen Namen?
„Ah … Na gut. Danke.“
„Du wirst schon nicht daran sterben, okay? Und etwas mehr Entspannung könnte dir sicher nicht schaden.“ Autsch! Die erste Kritik schon nach, na ja, fünfzig Sekunden? Das war selbst für Holly Rekord. Nur gut, dass ich hinter ihrer blonden Tussi-Fassade die wahre Holly kannte und liebte. Die wundervolle Freundin, die mir so sehr ans Herz gewachsen war.
„Schon gut, schon gut. Du kannst die Krallen wieder einfahren. Aber jetzt sag mal, was gibt es Neues?“ Ich war zwar nicht wirklich scharf auf den aktuellen Tratsch, dennoch wusste ich, dass Holly sicherlich längst einiges auf der Seele brannte, schließlich saß sie ja schon lange hier und hatte die Leute um sich herum ausgiebig beobachten können.
„Ach, was scheren mich die anderen Leute.“ Tun sie doch … „Aber wenn du mich schon fragst: Emma hat schon wieder einen neuen Lover dabei, ein regelrechter Skandal. Mike und Ross sind bereits ultra betrunken und Ben kann es nicht lassen, dauernd zu mir rüber zu starren. Glaubt der denn, er hätte ein Recht dazu, mich hemmungslos zu begaffen? Wer bin ich denn? Seine Wichsvorlage? Schrecklich, sage ich dir, schrecklich.“
Na ja, das war ja noch verhältnismäßig harmlos, denn es war immer mit einem gewissen Risiko behaftet, Holly zum Reden zu animieren. Das konnte gutgehen, oder aber ich saß drei Stunden später immer noch da, um ihrem Monolog so aufmerksam wie möglich zu lauschen.
Ich wartete also, bis der erste Schwall vorüber war, und entgegnete dann leichthin: „Normaler Studenten-Alltag, meinst du nicht?“ Jetzt lachten wir beide. Als ob wir Außenstehende wären … Ich nahm einen ersten, vorsichtigen Schluck aus meinem Becher und verzog unmittelbar das Gesicht.
„Ist aber schon sehr sauer, dieses Zeug, oder?“
„Ach, du bist nichts gewohnt. Sicher, die verwenden hier keinen hochwertigen Sekt, aber du wirst sehen, er wird von Mal zu Mal besser.“ Da es keinen Sinn hatte, Holly zu fragen, wieso ich etwas trinken sollte, woran man sich erst gewöhnen und was man sich erst schönreden musste, nickte ich einfach nur und trank tapfer erneut. Himmel, ich werde morgen sicherlich eine ordentliche Fahne haben, dachte ich nebenbei.
„Ehrlich, Schatz. Du könntest ruhig wieder einmal etwas für dich tun. Geh feiern, komm aus dir raus, hab Sex“, preschte Holly mit Ihrer Meinung hervor.
„Bitte?“ Beinahe hätte ich mich am Hugo verschluckt.
„Du weißt, was ich meine. Hab Spaß und genieße deine Jugend. Schließlich bist du nur einmal jung.“
„Holly! Sind wir heute wieder auf dem Analysiere-Loreley-Trip, ja?“
„Ich meine ja nur. Du wirkst nicht besonders zufrieden.“
Zufrieden? Wie wirkt man denn zufrieden? Nur, weil ich nicht immer mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht umherlaufe, nicht auf Rosa und Cheerleading stehe und schon gar nicht einen dieser Rugby-Typen der örtlichen Schulmannschaft anschmachte, bin ich noch lange nicht unzufrieden.
Auch diese Spitze ließ ich unkommentiert und hielt es stattdessen für besser, noch einen großzügigen Schluck meines kalten Getränkes zu nehmen. Oh, sie hat recht, jetzt ist es wirklich gar nicht mehr so schlecht … Aber das würde ich Holly lieber nicht sagen.
Wie dem auch sei, ich war eigentlich schon bedient, doch meine liebe, gutmütige Freundin, die eigentlich nur wollte, dass es allen gut ging, war im Gegenzug noch lange nicht fertig.
„Hör mal. Das sollte wirklich nicht gemein sein. Ich möchte nur, dass du dich nicht komplett im Studium verlierst, ja? Das würdest du später einmal sicher bereuen.“
Ja, ich weiß, dachte ich besänftigt, während sie meine Hand drückte.
„Schau dir Sarah an. Sie hat Spaß. Sie ist nicht unzufrieden.“
Das musste ich nicht, denn ich wusste genau, was sie tat.
„Holly, sie liest ein Buch. Auf einer Party. Während sie mit angewinkelten Beinen auf der Bank in der Ecke sitzt“, entgegnete ich mit diesem gewissen Unterton in der Stimme, der deutlich machte, dass ich mir nicht sicher war, ob sie mich verarschen wollte.
„Ja, ja, das tut sie. Aber es gefällt ihr.“
„Herrgott, Holly. Was ist nur los mit dir? Mir gefällt auch, was ich tue, und sorry, aber Sarah wirkt auf mich gerade nicht wie die aufgedrehte Partymaus.“
„Halloho …“, kam es aus der Ecke von Sarah, doch niemand reagierte. „Ich kann euch hören.“
„Tschuldige, Süße. War nicht so gemeint. Ich wollte nur, na ja, ich … Ach, vergiss es. Schon gut“, ruderte ich zurück.
„Ja, sorry, Schatz“, besänftigte auch Holly, während Sarah sich wieder in ihrem Buch verkroch.
„Normal ist das nicht …“, flüsterte mir Holly lächelnd zu.
„Ach, was ist schon normal?“
„Cheers.“
„Cheers.“
Der weitere Abend verlief weitestgehend ereignislos. Holly hatte sich irgendwann breitschlagen lassen und Ben sogar einen Tanz mit ihr gestattet, was sicherlich auch am fortgeschrittenen Alkoholpegel lag. Sarah kam in ihrem Wälzer gut voran, während ich mich tatsächlich noch zu einem weiteren Hugo hinreißen ließ.
„Puh, jetzt bin ich aber außer Atem. Bist du dir sicher, dass du nicht mal mit auf die Tanzfläche willst?“
„Ganz sicher, keine Sorge. Mir geht’s gut.“
„Oh Mann. Jetzt brauche ich auch erst mal eine Pause.“
Froh, nicht mehr länger ohne Ansprache herumzusitzen, versuchte ich mich in leichter Konversation: „Hey, schau mal, Holly. Wer ist denn dieser Typ da hinten?“
Verdutzt über meinen ungewohnten Vorstoß sah sie sich um.
„Wen meinst du?“
„Na, den da. Da hinten, am anderen Ende des Raumes.“
Jetzt hatte sie ihn auch entdeckt. Ich für meinen Teil sah ihn hier zum ersten Mal.
„Verstehe. Muss neu sein. Wow. Da hast du dir ja ein Sahneschnittchen rausgesucht. Gratuliere, Süße.“
Bei diesem Kommentar musste sogar Sarah kurz verwundert von ihrem Buch aufsehen.
„Ich hab ihn mir nicht ausgesucht, klar? Er ist mir nur aufgefallen. Das ist alles.“
„Ja, ja. So fängt es an. Aber er sei dir gegönnt.“
Arrgghhh … Zum Aus-der-Haut-Fahren! Warum wird einem hier immer das Wort im Mund umgedreht? Ist es etwa schlimm, kein männerverschlingendes Luder zu sein? Heißt es denn gleich immer, wenn man einen Mann auch nur ansieht: Hey, ich finde dich mega attraktiv. Willst du mich vielleicht hinter die nächste Ecke ziehen und dutzend schöne Babys mit mir machen?
„Pfff …“, mehr brachte ich nicht zustande.
„Uhhh, Sarah. Ich wette, Lory traut sich nicht, zu ihm rüberzugehen.“ Sarah schüttelte nur unbeteiligt den Kopf, wobei ich mir nicht sicher war, ob sie Holly damit zustimmte oder ihr damit nur signalisieren wollte, dass sie sie nicht mit reinziehen sollte.
„Holly. Hör auf, okay? Warum sollte ich das denn tun? Ich will ihn ja nicht kennenlernen oder sowas.“
„Nein?“
„Nein!“
„Du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Aber wie wäre es denn mit einer kleinen Wette?“ Oh, oh. Alle Alarmsirenen schrillten heftig in meinem Kopf, um mich zu warnen, Holly bloß nicht weiter zu provozieren. Stattdessen hörte ich mich sagen:
„Was genau meinst du mit Wette?“ Oh nein, Loreley! Selbst in der milchigen Dunkelheit der Location konnte ich dieses gewisse Blitzen in ihren Augen erkennen, das nichts Gutes verhieß. Überrascht von meiner Reaktion stellte sie ihr Glas ab und beugte sich verschwörerisch zu mir herüber.
„Also: Der Typ ist wirklich heiß, und du könntest ein wenig Spaß gut vertragen. Warum also gehst du nicht zu ihm hinüber und gibst ihm einen Kuss? Völlig unverbindlich und ohne Vorwarnung. Du weißt, was ich meine.“
„Ich soll ihn küssen?“, fragte ich entsetzt.
„So sieht’s aus, Baby. Ein Kuss. Harmlos, unschuldig und mega sexy.“
Hat sie sie noch alle? Warum zur Hölle sollte er sich das gefallen lassen? Das kommt ja überhaupt nicht in Frage.
Ich leerte meinen Becher in einem Zug und musste zu meinem Entsetzen leider feststellen, dass ich mich bereits auf den Weg quer über die Tanzfläche befand und damit hinüber zu dem unbekannten Fremden. Loreley? Bleib stehen! Sofort! Keine Chance. Ich fühlte mich beflügelt, frei und auch reichlich benebelt. Verdammter Alkohol.
Verwundert, wie geschickt ich mich durch die Mengen schlängelte, mein Ziel stets vor Augen, kam ich schließlich am anderen Ende des Clubhouse’ an. Da stand er. Immer noch fixierte er mich mit seinem düsteren Blick. Mist! Dreh um. Jetzt!, sagte ich immer wieder zu mir selbst, während sich der Raum um mich herum in Nebel auflöste.
Plötzlich gab es nur noch ihn und mich. Er, lässig an die Wand gelehnt, jedoch wenig kommunikativ und ganz sicher nicht den Eindruck erweckend, dass er hier mit irgendjemand etwas zu tun haben wollte. Und ich, die auf absolut peinliche Weise von seiner düsteren Aura angezogen wurde.
Was war nur mit mir los? Warum konnte ich nicht einfach kehrtmachen und Holly sagen, dass sie ihn doch einfach selbst küssen sollte? Dem Typen war nicht entgangen, dass ich ihn ganz offensichtlich ansteuerte, wenn auch vermutlich nicht sehr graziös und reichlich schwankend.
Trotz beachtlichem Alkohol-Mut-Pegel, musste ich mich wirklich zusammennehmen, um nicht einen Rückzieher zu machen und mich anschließend unter dem Tisch zu verkriechen. Unter dem Tisch, von dem aus Sarah und vor allem Holly mich sicherlich mit Argusaugen beobachten.
Vorsichtig drehte ich mich um und bereute es sofort. Quer über den Hauptraum des Clubhouse’ hinweg prostete mir meine liebe, gute, unauffällige Freundin Holly mit ihrem Becher wenig dezent zu. Verdammt! Das hatte der Fremde sicherlich gesehen.
Im Vorbeigehen klopften mir einige Feierwütige auf die Schulter, die ich bestimmt kannte, jedoch aktuell nicht wirklich wahrnehmen konnte. Immer wieder hörte ich am Rande über die dröhnende Musik hinweg ein geschrienes „Hi“, was ich aber geflissentlich ignorierte.
Gebannt versuchte ich mich weiterhin auf jenen Mann zu konzentrieren, dessen dunkle Augen mich unablässig fixierten. Wer ist er?, ging es mir immer wieder in Endlosschleife durch den Kopf, während ich weiter einen Fuß vor den anderen setzte. Links, rechts. Eins, zwei. Immer weiter der größten Blamage entgegen, die ich in meinem Leben begehen werde.
Nur noch wenige Meter, und dann würde es geschehen. Ich würde einen wildfremden Mann küssen, mir dabei möglicherweise einen dummen Spruch oder Schlimmeres, wie zum Beispiel eine Ohrfeige, einhandeln, und für alle Ewigkeit vor meinen Freundinnen und der halben Uni als Loser abgestempelt sein. Aber, was soll’s? Was tut man nicht alles für ein kleines bisschen Spaß, wie es Holly so sehr betonte? Wobei ich mir nicht sicher war, ob sie und ich dieselbe Auffassung davon hatten, was wirklich vergnüglich war.
Nur noch fünf Schritte. Vier, drei, zwei …
Hey! Was sollte das denn nun? Der Fremde unterbrach unvermittelt unseren Blickkontakt, drehte sich weg und verschwand in einem kleinen Gang, der, durch eine Trennwand von hier abgeteilt, zum Ausgang führte. Nein! Nicht gehen. Nicht jetzt!, flehte ich in Gedanken und merkte, wie ich meinen Schritt beschleunigte. Immer schneller eilte ich voran, bog rechts ab und hinein in den Gang, bis ich schließlich gegen etwas Großes, Hartes prallte.
In dem lauschigen Halbdunkel hier konnte ich nicht klar sehen. Das und auch die vielen kleinen, fröhlichen Promille, die durch deine Adern Achterbahn fahren, vernebeln deine Sinne, schalt ich mich selbst, während ich mich immer noch dicht gegen das Hindernis drängte.
„Ähm, willst du durch mich hindurch laufen? Das dürfte jedenfalls schwer möglich sein, schließlich bin ich kein Geist oder sowas.“
Wie? Was? Das Hindernis konnte reden und obendrein war es nicht gerade nett zu mir.
Beschämt sah ich auf, ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, als mich die Erkenntnis wie ein harter Stein gegen den Kopf traf: Das Hindernis war er! Blitzschnell ging ich all meine Möglichkeiten durch. Erstens: weglaufen. Keine gute Idee und beinahe noch peinlicher als der Zusammenstoß.
Zweitens: Etwas Witziges sagen und anschließend vielleicht eine gepflegte Konversation führen. Ausgeschlossen! Dazu war ich wirklich nicht fähig. Und drittens und letztens: Küss ihn!
Kleine, flirrende Funken rasten in Lichtgeschwindigkeit durch meinen vor Aufregung bebenden Körper, verwirrten meine Gedanken und ließen meine Knie erzittern. All die Musik, der Tanz, das Gedränge nebenan waren plötzlich in den Hintergrund geraten. Hier gab es nur ihn und mich. Was sicher oft leichthin gesagt wird, in meinem Fall aber tatsächlich der Wahrheit entspricht.
Langsam gewöhnte ich mich an das schummrige Licht. Aus der Nähe betrachtet, konnte ich erkennen, welch starken Kontrast seine dunklen Augen zu seinen kurz geschnittenen, jedoch trotzdem wuscheligen Haaren von einem dunklen Honigblond darstellten. Breite Schultern bauten sich selbstbewusst vor mir auf, und ich hätte aufgrund seiner Größe nicht darüber schauen können.
Er war lässig gekleidet, nicht übertrieben versnobt, wie die meisten hier, sondern von rebellischem Chic, den ich anders nicht betiteln konnte. Eingerissene, jedoch sicherlich nicht minder teure Jeans sowie ein dunkelbraunes Shirt mit blauem, undefinierbarem Aufdruck stachen mir trotz des schwachen Lichtes sofort ins Auge. Doch da war noch etwas anderes: Eine Kette, die ihm lang über die Brust hing. Ein silberner Flügel an einem einfachen Lederband, soweit ich richtig sah.
Die Sekunden verrannen. Oder waren es Minuten? Raum und Zeit schienen irgendwie aus ihren Fugen geraten zu sein, und ich konnte nichts weiter tun, als ihn einfach anzustarren. Was, um alles in der Welt, tust du da nur, Loreley?
Und dann geschah es: tatsächlich Ich stellte mich wackelig auf die Zehenspitzen, legte meine Hände auf seine breiten Schultern und presste meine bebenden Lippen auf die seinen. Ganz unschuldig und jungfräulich war unser Kuss. Oder sollte ich besser sagen, mein Kuss? Denn genau genommen hielt der Fremde einfach nur still, während meine Lippen für einen einzigen, kostbaren Moment auf den seinen ruhten. Auf seinen überaus weichen, vollen Lippen … Loreley!
Was dann geschah, konnte ich nur noch schemenhaft wahrnehmen.
Dunkelheit hüllt mich ein, während das Hämmern der Musik in meinem Kopf für einen Augenblick aussetzt. Sanfte, starke Hände umschmeicheln meinen Körper, geben mir das Gefühl, begehrenswert zu sein, als ein großer Körper mich gegen die Wand presst. Absolute Sinnlichkeit flutet meinen Körper, der in diesem einen Augenblick zu allem bereit zu sein scheint. Heiße Küsse bedecken meine erregte Haut, mal sanft, mal fest saugend, bahnen sich ihren Weg meinen Hals hinab, bis zu meinem Ausschnitt. Eilig werden meine Brüste freigelegt, die bereitwillig weitere Küsse einfordern. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, genieße willig die sanfte Qual, die Mund und Zunge mit mir anstellen. Ich möchte schreien, kann mich kaum beherrschen und fühle mich, als müsste ich in jedem Moment abheben, beflügelt von den Wogen der Dunkelheit, die mir reine, verbotene Glückseligkeit bescheren.
„Lory? Loreley? Kannst du mich hören?“
Da war es wieder. Das hämmernde Dröhnen, das sich unnachgiebig in meinen Kopf bohrte.
„Autsch!“, war das einzige, was ich in diesem Moment zustande brachte. Ich saß auf dem Boden des Flurs zum Ausgang und hielt mir den Kopf. Was war geschehen? Verzweifelt rieb ich mir die Stirn, in der Hoffnung, irgendeine brauchbare Erinnerung daraus hervor zu befördern. Doch nichts, nada, nothing.
„Erde an Loreley. Hallo? Süße, hörst du mich?“
Endlich nahm ich Holly und auch Sarah wahr, die sich zu mir herabbeugten und mich mit sorgenvollem Blick anstarrten.
„Was ist geschehen?“, krächzte ich atemlos.
„Das wollten wir dich gerade fragen. Eben warst du noch auf dem Weg, um, na ja, um diesen Typen zu küssen, und plötzlich bist du verschwunden. Am Ende finden wir dich hier, zusammengesunken auf dem Boden. Loreley, was hat das zu bedeuten?“
Es verhieß nichts Gutes, wenn sie mich bei meinem vollständigen Vornamen nannte. Wie lange war ich weg gewesen? Doch nicht mehr als vielleicht eine Minute? Oder doch bedeutend mehr? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
„Ja, ich … ich weiß nicht. Da war dieser Typ, und dann war er nicht mehr da. Ich bin ihm gefolgt und habe ihn geküsst. Zumindest glaube ich das. Hab ich ihn geküsst?“
Betretene Gesichter.
„Ich weiß es nicht, Süße. Ehrlich. Du bist in diesen Gang verschwunden, und ich konnte dich nicht mehr sehen. Du, Sarah?“
„Leider nein. Jetzt komm. Wir bringen dich nach Hause.“
„Das möchte ich nicht. Ich meine, ich will euch nicht den Abend verderben. Bleibt ihr nur hier. Ich schaffe das schon allein.“
„Spinnst du? Damit wir dich das nächste Mal irgendwo im Gebüsch wiederfinden? Kommt ja überhaupt nicht in Frage. Außerdem ist eh nur langweiliges Publikum anwesend. Das geht schon klar“, fügte Holly noch hinzu.
Mir war klar, dass sie das nur sagte, um mich zu beruhigen. Tatsächlich wäre sie bestimmt gerne noch geblieben. Sie streichelte mir sanft über die Wange, während Sarah mich auf die Beine zog.
Mein Kopf tobte, und ich schwor mir hoch und heilig, nie wieder eine Liaison mit diesem Typen namens Hugo einzugehen, an den man sich erst gewöhnen musste und dessen Wirkung einen buchstäblich von den Füßen haute. Wohlgemerkt im ungünstigsten Moment vor möglichst vielen Zeugen.
Wagemut war offensichtlich nichts für mich, und heute Abend bezahlte ich eben diesen mit ordentlich Lehrgeld. Gut platziert, vor Beginn des Michaelmas-Semesters, um auch ja für die kommenden Monate vor allen als Freak dazustehen. Gut gemacht, Loreley. Mit bravourösem Doppelsalto hinein ins Fettnäpfchen!
Aber eins musste ich mir lassen: Diese Kür machte mir so schnell niemand nach.
Bedröppelt und auch ein wenig froh darüber, dass ich mich noch nicht in den Abgrund der Nüchternheit stürzen musste, ließ ich mich von meinen Freundinnen nach Hause in unsere Wohnung bringen. Ich war bedient und konnte mir jetzt schon vorstellen, wie grausam mir der Tag morgen die Leviten lesen würde.
Erschöpft sank ich schließlich in einen merkwürdigen Traum von dunklen Augen, starken Händen und einer Macht, die mich ungefragt in ihre Fänge nahm und unwiederbringlich hinfort |